Auch an diesem Tag klappt mein Vorsatz, um neun Uhr morgens wach zu sein. Aber Manu ist immer noch erkältet, so dass der Sport erneut flach fällt. Also kuscheln, diverses erledigen und gegen elf zum Shack. Wir sind jetzt eine Woche hier. Was fällt mir auf?
Wir finden uns mittlerweile recht gut zurecht in der kleinen Welt von Sauntawaddo, wie ich den Namen des Dorfes hier am Baga Beach endlich auf einem Schlüsselanhänger des Fisherman Guest House lesen kann. Heute morgen ist Peter angekommen, der Mann von Beaula, der uns nun mit dem Mopedfahren hier vertraut machen soll, dann wird sich der Radius erweitern.
Ganz wichtig: Niemals etwas essbares herumliegen lassen, keine einzige unbeobachtete Minute. Schnell ziehen Ameisenkolonnen dorthin oder die Krähen kommen. Die Hunde sind in der Regel so, dass sie erst etwas nehmen, wenn wir es ihnen gestatten. Und die halbwilden Schweine sind sowieso nicht dort, wo wir essen: Am Strand, im Restaurant oder in der Wohnung.
Während ich dies schreibe, singen einheimische Kinder draussen Jingle Bells. Weihnachten, dieses Fest, das für mich so untrennbar mit Kälte, Schnee, Tannenbäumen, Plätzchen und Dunkelheit verbunden ist, wirkt hier deutlich deplatziert. Da laufen Inder mit Weihnachtsmützen herum, unter denen ich mich totschwitzen würde. Braungebrannt – wenn auch vorsichtig – sind wir an diesen christlichen Feiertagen.
Was wir fantastisch gelernt haben: Menschen ignorieren. Am Anfang sagten wir noch „No“, wenn uns jemand etwas andrehen wollte. Aber spätestens seit dem Ausflug in die Hauptstadt Panjim, wo das Gedränge merklich zugenommen hat, reagieren wir gar nicht mehr. Manu kämpft damit, dass dies unhöflich wirken kann, aber es ist die einzig sinnvolle Reaktion. Wenn wir die fliegenden Händler vollkommen ignorieren, geben sie noch schneller auf, als wenn wir mit einem „No“ zeigen, dass wir sie wahrgenommen haben. Und das ständige „No“ nervt.
Das einzige, wo es wirklich pervers ist: Wenn wir am Strand sitzen, das von einer Händlerin frisch gekaufte Obst verzehren, und eine der Bettlerinnen vor uns auftaucht: Eine Alte, die mit enervierender Leierstimme bittet, oder eine junge Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Wir in der Fülle und diese Menschen im Mangel. Standhaft bleiben, kein schlechtes Gewissen bekommen, das frische Obst genießen. Statt sich wie ein Idiot vorzukommen: Dankbar sein für die Geschenke, die das Leben uns bereitet, für all das, was wir uns erarbeitet haben.
Einmal arbeitet sich am Strand ein Behinderter vorbei. Seine Beine tun es nicht mehr, eines ist nur noch Knochen. So robbt er auf seinen Armen vorwärts, verharrt zuweilen im Schatten eines Bootes. Bei uns in Deutschland leben viele in Heimen, hier sind sie normaler Bestandteil des Alltags. Jahrelang habe ich Individuelle Schwerstbehinderten Betreuung gemacht, Hardcore mit Multipler Sklerose im Endstadium. Habe die Menschen dafür geachtet, wie sie mit ihrer Krankheit versuchten, ein normales Leben zu führen. Und frage mich hier, ob ich nicht etwas übersehen habe: Wie Behinderte bei uns im Grunde versuchen, dass das Leben sich an sie und ihre Behinderung anpasst.
Verständlich. Menschlich. Aber hier würde keiner meckern, dass etwas nicht rollstuhlgerecht oder „behindertengerecht“ ist. Weil die normalen Leute gar keinen Rollstuhl haben. Einen „meiner“ Behinderten würde ich hier nie am Strand zu sehen bekommen. Und wenn doch, dann deshalb, weil „sein“ Helfer ihn mühevoll durch den Strand schiebt. Ich verstehe, welchen Luxus bei uns Behinderte genießen. Und ich glaube, dass sich diejenigen, die ich betreut habe, und wenn sie noch so intensiv in einer „Krüppelinitiative“ waren, sich zu fein gewesen wären, aus dem Rolli in den Sand zu plumpsen und sich auf ihren eigenen Armen durch zu arbeiten, wie dieser Mann hier vor mir. Ist die „Würde“, um die es bei uns geht, wirklich menschenwürdig? Für mich besitzt dieser Mann, der seine Beine nicht mehr benutzen kann und ganz ohne Hilfe das tut, was er tun will, mehr Würde, als so manche der Behinderten in Deutschland, die uns Helfer als ihre verlängerten Beine und Arme benutzt und so manches Mal nicht wirklich mit Dankbarkeit begegnet sind für den harten Job, den wir gemacht haben. Und ich freue mich, dass Behinderung hier Teil des Alltags ist, während in Deutschland sich so mancher angepisst fühlt, wenn er Menschen mit Handicaps sieht und diese am liebsten in Kasernen verstecken möchte.
Ansonsten: Das Wasser ist heute mittag am Baga Beach erstaunlich klar. Mittlerweile sind mehr Leute da, zur Freude der Betreiber. Die Jungs vom Shack haben bereits ihr Leid geklagt. Kaum Besucher dieses Jahr. Einerseits werden Bankenkrise und Rezession dafür verantwortlich gemacht, andererseits die kürzlich erfolgten Anschläge. Auch Beaula weist uns immer wieder darauf hin, wie leer es an sich ist. Von manchen Shacks tönt laute Partymusik und wenn man dann genau hinsieht, ist außer den Mitarbeitern niemand drin. Trist.
Für den Abend besorgen wie eine Torte von Britto’s mit „alpin choclate“. Während wir warten kommt ein älterer Herr zu uns und stellt sich als Britto vor, der Chef des Ladens. Er erzählt uns, dass er einmal im Jahr nach Michelstadt, in die Nähe von Gaggenau bei Stuttgart fahren würde. 500 Rupien kostet die Leckerei. Wir spazieren über den Strand zurück zu Beaula, wo heute gefeiert wird. Sie und ihre vierköpfige Familie, drei Amis, wir vier und die grade eingetroffene dreiköpfige Familie aus Kahl am Main, dazu drei Hunde. Um halb zwölf merke ich, dass ich mich ein wenig krank fühle, erhöhte Temperatur habe und dringend ins Bett muss. Drei Tage konnte ich widerstehen, jetzt hat es mich ebenfalls erwischt.