Anstatt am siebten Tag zu ruhen, fährt unser Autor nicht nur von Caspio nach Porto, wo er sich kurz von einer attraktiven Korsin begehrt fühlen darf. Nein, er begibt sich auf den Mare e Monti von Ota nach Evisa und erlebt sein ganz persönliches Martyrium, bis er den Nektar der Korsen kosten darf.
Zwei Buntspechte wecken uns. Müsli zum Frühstück, dann spülen. Oh Wunder, draußen regnet es, sogar Donner ist zu hören. Bis wir mit Spülen fertig sind, ist allerdings wieder die Sonne draußen. Madame geht an den Strand, während ich mich um die Macchia in meinem Gesicht kümmere.
Ich bin gerade voller Rasierschaum, als von Punta Rossa eine „Mama“ herübergestapft kommt und mir einen Vortrag hält. Ich verstehe nur „dormir“. Auf jedes Wort, das ich zu entziffern versuche, folgen zehn andere. Keine Chance. Warum können diese Franzosen nicht langsam reden und einfache Worte verwenden? Meine diesbezüglichen Bitten verhallen wirkungslos. Ich heirate kurzerhand meine Begleiterin und erkläre, dass meine Frau dort hinten am Strand wäre und besser französisch verstünde. Nach einem weiteren „je ne comprends pas“ meinerseits stapft die korsische Walküre davon und ich bleibe als ratloser Neu-Ehemann zurück. Unsere Nachbarn aus Paderborn sind verblüfft, da sie hier schon seit zwei Tagen ohne Probleme mit ihrem Wohnmobil stehen. Vielleicht weil sie sich auf der anderen Seite des Mäuerchens befinden?
Wir reisen gen Porto ab. Unterwegs gibt es einen Stau auf der schmalen Küstenstraße – ein Wohnmobil aus Deutschland und der Fahrer einer Luxuskarosse kommen nicht aneinander vorbei. Ersterer setzt zurück, als hinter ihm ein zweites Wohnmobil auftaucht, dazwischen klemmt ein Radfahrer. Eine Harley komplettiert das Chaos. Der Stau wächst, die Wohnmobil-Fahrer dirigieren den Verkehr an sich vorbei, bis sie sich weiter trauen – und nutzen den Aufenthalt an dieser schönen Aussicht gleich noch für ein paar Panoramafotos.
In Porto stürmen wir in letzter Sekunde den Spar-Markt und schauen uns am Hafen um. Massig Hotels und Restaurants. Madame läuft gerade 20 Meter vor mir her, als ich mir vom vordersten Freilufttisch eines Restaurants aus ein nettes Lächeln und einen freundlichen Gruß auf Französisch einfange. Eine attraktive Blondine in meinem Alter, ganz allein an einem Tisch. Ich nicke völlig verdutzt.
Doch nur kurz kann ich mir einbilden, ein Mann zu sein, für den sich schöne Korsinnen interessieren. Denn anstatt mich ins nächstbeste Gästezimmer zu zerren, erklärt sie mir die Speisekarte. Die Dame macht einen Job. Doch auch ihr korsisches Menü für 15 Euro klingt verführerisch, gern würde ich Wildschwein testen. Aber meine Begleiterin will lieber abends essen und ich will sie nicht schon wieder wie im Hafen von Centuri Port überreden. Also gibt es Brot, Banane und Käse im Bus.
Danach will Madame eine Entscheidung darüber, wie es weiter gehen soll. Sie ist genervt. Ich auch. Die hingehaltene Landkarte stellt für mich nur ein farbiges Stück Papier dar. Manche Namen klingen nett, müssen aber nichts mit der Realität zu tun haben. Im Gegensatz zu meiner Begleiterin habe ich keine Ahnung von Reisen im Campingbus, von Korsika oder richtigem Wandern. Aber ich muss etwas tun.
Meine Rettung scheint ein Blick in den Wanderführer zu bringen. Ganz in der Nähe geht die achte Etappe des Mare e Monti von Ota nach Erisa: „Dieses Teilstück durch die beeindruckende Felslandschaft wird von vielen Korsikaurlaubern gegangen.“ (Hausmann, S. 154). Die Sache mit dem guten „Herz- und Kreislauftraining“ aufgrund der zu überwindenden 600 Höhenmetern kann ich weniger einordnen, Höhenmeter sind für mich ein Fremdwort. Aber hey, in einer Woche soll ich bei einem Halbmarathon im Taunus starten, es sollte also wohl zu schaffen sein, oder? Außerdem hat Madame schon öfter von diese Etappe geschwärmt, sie wird sich sicher freuen, wenn wir dies angehen.
Wir parken in Ota an der genuesischen Brücke und laufen los. Alles kein Problem. Hinter einer weiteren alten Brücke links eine kleine Badestelle – angesichts des bereits rinnenden Schweißes und meiner Badeleidenschaft sehr verführerisch. Leider sind beide Buchten bereits besetzt. Also weiter.
Doch dann beginnt das Martyrium. Es geht nur noch bergauf. Und ich bin völlig unfit: Seit einer Woche ständig unterwegs, keinen Morgen ausgeschlafen, teilweise wie gerädert. Der Aufstieg entpuppt sich als karthartischer Prozess. Dieser Urlaub ist nicht mein Stil. Ich brauche eine feste Homebase, die sich nicht jeden Tag bewegt. Muss abends um 18 Uhr Feierabend haben, Zeit für ein ordentliches Abendessen, zur Regeneration ohne jegliche Aktivitäten, Zeit zum Lesen.
Während mir dies klar wird, kämpfe ich mich Schritt für Schritt voran. Spaß macht das nicht. Ich will den Berg nicht bezwingen, bin im Bewusstsein dessen, dass er noch dort stehen wird, wenn sich längst keiner mehr an mich erinnert. Aber ich will oben ankommen oder tot umfallen. Wenn ich jetzt eine Pause machen würde, käme ich nicht mehr hoch. Ich torkle wie ein Besoffener.
Die bergerfahrene Madame ist meist weit vor mir, außer Sicht. Macht zuweilen Pause, um auf mich zu warten. „Willst du Pause machen?“, frägt sie. Ich habe keine Luft, um ihr die Sache zu erklären. Keine Kraft, mich verständlich zu machen. Will nicht jammern, sie war vorhin schon sauer. Ich habe mich für diesen Weg entschieden, jetzt muss ich ihn auch gehen. Natürlich ist es heiß, der Schweiß läuft in Strömen, nur selten eine rettende Brise.
Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo ich alle Möglichkeiten ausgeschöpft habe. Alle phantastischen Varianten, den Wirt der Gite d’Etappe in Galeria aus dem Diesseits zu befördern, sind durchhalluziniert. Zorn kann einen hunderte von Metern voranbringen. Auch Verzweiflung und Selbstmitleid. Kurz bevor ich umfalle, treffe ich Madame an einem schattigen Felsen. Ich kann nicht mehr und gebe auf. Sitze, trinke, atme schwer. „Wollen wir zurück?“ Jetzt zurück? Oh nein. Irgendwann kann ich wieder sprechen. „Wie weit noch?“ „Vielleicht 15 Minuten.“ „Dann weiter.“ Unser Wasser ist fast alle, in Evisa sollte es Brunnen geben.
Aufrappeln, weitergehen. Die kurze Pause hat gut getan. Der Pfad windet sich weiter steil nach oben. Doch irgendwann höre ich Autos, dann das Platschen eines Baches. Ich sehe einen Friedhof, genau das Passende für mich. Evisa. Wir gehen die Hauptstraße hoch. Das Wasser aus dem Brunnen mundet köstlich; kalt und sehr mineralisch.
Im Café la Poste kehren wir ein. Ein Dutzend alter Korsen spielt Karten. Der erste Schluck Panache lässt ein Halleluhja erklingen. Das würzig-herbe Pietra, gemischt mit fruchtig-süßer Limonade, ist eine Sensation für meine Geschmacksnerven. Das hätte ich gern zu Hause statt des langweiligen deutschen Einheitsbieres.
Dann geht es zurück. Wir haben bereits 20 vor sieben. Also gibt es Abendbrot auf dem Felsen. Wenigstens ist der Abstieg wesentlich schneller. Als ich einen Fuß auf einen Trittfelsen setzen will, sehe ich darunter etwas huschen. Ich kann den Schritt noch ein wenig zur Seite lenken, aber er bleibt nicht folgenlos. Ein langes Stück Eidechsenschwanz zuckt wie wild über den Weg. Mist. In einem Wanderführer stand, man solle ruhig zutreten, die Eidechsen wären schnell genug und man würde sich mit Ausweichmanövern nur gefährden. Unsere Erfahrung aber zeigt, dass manche Eidechsen arg langsam sind – ich hoffe, meine Reaktion hat dieses Leben gerettet.
Unten dann noch schnell eine Katzenwäsche im Porto. Es wird dunkel, bis wir am Bus zurück sind. Ich will nur noch ins Bett. Schnell in Ota die Wasservorräte aufgefüllt, dann zur nächsten bekannten, sicheren Übernachtungsstelle: Am Golf von Porto hat Madame vor ca. 18 Jahren in Bussaglia übernachtet. Also wieder die D81 nach oben und hinunter zum Strand. Wieder einmal zwei Restaurants, davor eine kleine Wiese mit Bäumen, wo bereits zwei Wohnmobile stehen. Deutsche. In beiden läuft der Fernseher, Fußball.
Ich baue unser Lager auf und lege mich ab. Schicht im Schacht. Ich brauche Urlaub vom Urlaub!